[Aus der Bibliothek.]
Ostpreussen, 1945: Als die Rote Armee einmarschiert, muss die Familie Wolf fliehen. Bald findet sich die elfjährige Liesl mit ihren Geschwistern allein im Schneesturm wieder. Sie ist die Älteste, sie hat die Verantwortung. Und sie hat ihrer Mama versprochen, auf Mia und Otto aufzupassen. Im bitterkalten Winter schlagen sich die Wolfskinder durch Wälder und Sümpfe.
Doch Wölfe geben nicht auf. Wölfe lassen sich nicht erwischen.
Und manchmal geschieht ein Wunder.
Das Buch beginnt damit, dass der Vater der drei Kinder der Familie Wolf – die elfjährige Liesl, der siebenjährige Otto und die anderthalbjährige Mia – im Oktober 1944 doch noch einberufen wird, obwohl er ein kaputtes Bein hat, seit er als kleines Kind unter ein Pferd geraten ist; und auch Herr Wagner, dem an einer Hand drei Finger fehlen, Herr Schmidt mit dem Glasauge und der erst sechzehnjährige Jakob müssen aus dem ostpreussischen Dorf an die Front. Zwei Monate später werden alle vier als vermisst gemeldet, einen weiteren Monat später marschiert die Rote Armee in Ostpreussen ein und die Familie Wolf – Grosseltern, Mutter, Kinder – versucht, über das Stille Haff nach Westen zu fliehen. Nach einem Bombenangriff auf den Flüchtlingstreck finden sich die drei Geschwister allein im Schneesturm wieder und müssen sich ab da allein durchschlagen.
Fast ein Jahr lang sind die Geschwister auf sich gestellt: sie leben in einem verlassenen Bauernhof (wo sie sich um die verlassenen Kühe kümmern und vier Kälbchengeburten miterleben), später bei russischen Soldaten (bis ihr Kommandant die kleine Mia seiner Frau nach Russland mitbringen will), im Sommer in einer Holzhütte im Wald (zusammen mit anderen Kindern, die ohne ihre Eltern in Ostpreussen zurückgeblieben sind), und als der Herbst mit den ersten Frostnächten anbricht, versuchen sie, sich nach Litauen durchzuschlagen, weil sie gehört haben, dass es dort mehr zu essen gibt. Am Ende stehen sie vor der schweren Entscheidung, für ein Zuhause ihre Namen und ihre Sprache und damit die Hoffnung, dass ihre Mutter sie je wiederfinden könnte, aufzugeben, weil dem litauischen Ehepaar, das ihnen Ersatzeltern sein möchte, im besten Fall die Deportation nach Sibirien droht, wenn herauskommt, dass es deutsche Kinder sind, die bei ihnen untergekommen sind.
Das ist harter Stoff für ein Kinderbuch. Aber dass die Geschichte aus Liesls Sicht erzählt wird, macht sie für Kinder gut aushaltbar: Liesl beobachtet ziemlich unvoreingenommen, was um sie herum vorgeht. Nichts ist schwarz-weiss. Immer ist Hoffnung. Und oft erzählt sie so, dass der Geschichte trotz ihrer Tragik die Schwere genommen wird:
„Wir sind schon an mehreren Häusern vorbeigekommen, aber überall gab es knurrende Hunde und misstrauisch dreinblickende Bauern und handgemalte Schilder an den Toren, auf denen vielleicht „Betteln verboten“ steht oder „Wir hassen dreckige Deutsche“. Andererseits kann es auch sein, dass etwas anderes darauf steht: „Brot zu verkaufen“ oder „Hier Gratis-Schokolade“. Wir wissen es nicht, weil wir Litauisch nicht lesen können.“
Und weil es ein Kinderbuch ist, gibt es ein Happy End; aber kein kitschiges, bei dem alles gut wird, sondern eins, bei dem alles bestmöglich gut wird, das aber gleichzeitig auch ein bisschen traurig ist.
Es ist ein Buch, das man seinen Kindern ruhig zutrauen kann.
Der kleine Herr Maus und ich haben noch Wochen, nachdem wir es beide gelesen hatten, viel über das Buch geredet. Und als neulich der grosse Herr Maus mäkelte, sagte der kleine Herr Maus zu ihm: „Damals, nach dem Krieg, weisst du, da haben die Kinder rohe Schnecken gegessen, weil sie nichts anderes hatten!“ So soll ein Buch sein.
Katrina Nannestad (Text), Martina Heiduczek „(Illustration) „Wir sind Wölfe“. cbj, 2022. Gebundene Ausgabe, 352 Seiten.